Der Meister des zweiten Gesichts



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Mecklenburg Wismar Starkes Stück über Tod und Lust zum Leben

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14:08 30.09.2018
Wismar „Keine Blume blüht alleine“: Starkes Stück über Tod und Lust zum Leben

Hut ab vor diesem Schauspielteam! Laiendarsteller vom Theater Maue haben sich mit dem Thema Selbstmord beschäftigt. Entstanden ist ein schonungsloses Stück mit Momenten zum Lachen und zum Weinen.
Intensives Bild: Alaska (Sara Engeland, 19) in der Psychiatrie nach ihrem Suizidversuch.
Intensives Bild: Alaska (Sara Engeland, 19) in der Psychiatrie nach ihrem Suizidversuch. Quelle: Nicole Hollatz
Wismar

„Verfickte Scheiße, lasst mich doch einfach sterben“, schreit Sara Engeland über die Bühne. Voller Wut, voller Todessehnsucht. Man möchte die junge Frau von der Bühne zerren, möchte sie rütteln, in den Arm nehmen – man nimmt ihr das Schauspiel ab. Denn zum Glück ist es nur das, ein sehr intensives Schauspiel. Die 19-Jährige spielt das Mädchen Alaska, das nach einer Überdosis in der Psychiatrie landet, um ihren Selbstmordversuch zu verarbeiten und wieder zurück ins Leben zu finden.

Am Freitagabend hatte das Stück „Keine Blume blüht alleine“ im großen Saal des Wismarer Theaters seine Premiere. Vermutlich das intensivste, das beste Stück, das Regisseur und Maskenbauer Lars Maué bisher auf die Bühne gebracht hat. Zusammen mit seiner Frau Johanna Kanka-Maué (Kostüme) und mit Laiendarstellern, mit denen er teilweise über Jahre schon zusammen arbeitet. Die so wie er mit dem Stück den Suizid eines jungen Mannes aus der Theatergruppe selbst verarbeitet haben. Kunst als Ausdrucksform, Kunst als spitzer Finger ganz tief in der Wunde, damit die danach besser heilen kann, auch wenn die Narbe zurückbleibt.

Ganz konkret haben die Darsteller so im Epilog des Stücks von ihren Gefühlen von „damals“, am Tag x erzählt. Die Textfragmente sollten emotionslos vorgelesen werden mit den Darstellern in ihren Alltagsklamotten auf der Bühne. Und sollte so mit dem Gefühl des damaligen Schocks das möglich machen, was viel zu oft nicht passiert. Das drüber sprechen. Auch deswegen sind in den kommenden Tagen drei Vorstellungen für Jugendliche geplant. Die Nachfrage ist gut, die Vorstellungen sind natürlich öffentlich auch für Besucher jenseits des Schulalters.

Zurück zu Sara, zu Alaska, zu den Tabletten. Ein intensives Bild. Sechs Darsteller betreten die Bühne. Fünf drehen dem Publikum den Rücken zu. Sara/Alaska nimmt Tabletten, immer wieder, trinkt ein Schluck Wasser, während hinter ihr eine Figur nach der anderen zusammen sackt. Und dann begegnet sie dem Tod – Psychologin Marlies Riebschläger steckt unter der Maske. Nächste Szene: Alaska liegt auf der Trage, nur ihr Gesicht ist spärlich beleuchtet, die Dreadlocks hängen runter. Um sie herum die Dramatik einer Notaufnahme. Dazu das Bühnenbild, das von Anke Rosenmüller fast das ganze Stück über einen Overheadprojektor und einen großen weißen Vorhang live inszeniert wird. In der Szene steht ein flaches Schälchen mit Wasser auf dem Projektor, zeigen rhythmisch tropfendes Wasser als Symbol von Tod und Leben.

Aber es sind nicht diese dramatischen Szenen, die im Gedächtnis bleiben, auch wenn sie einem die Luft abschnüren. Es sind die, in denen Sara Engeland lacht. Die in denen die Pfleger, Oberschwester und Arzt in der Psychiatrie ihre eigenen Spleens, Verrücktheiten und Schwächen zeigen. Und die, in denen sie die Situation gekonnt auf die Spitze treiben. „Mir ist eine Fliege in die Suppe gefallen und will sich nicht helfen lassen“, sagt der eine Pfleger. „He du da, komm aus der Suppe, sonst knall ich dich ab“, antwortet der andere mit der gezogenen Waffe. „Toll, wie du das gemacht hast. Jetzt klettert sie auf meinen Finger. Aber sie zittert. Du hast ihr Angst gemacht!“ - „Stimmt, aber jetzt will sie wenigstens wieder leben!“

Am Ende will Alaska wieder leben, steht dem Tod unfreiwillig ein zweites Mal gegenüber und grinst ihn an. Hält einen eindrucksvollen Monolog mit roten Luftballons in der Hand. Ganz ehrlich und greifbar, dass nun auf der Bühne wie im echten Leben nicht alles rosarot ist. Es ist ein Anfang. Und der ist besser als das Ende.
Weitere Vorstellungen im Theater

Etwa 200 Menschen entscheiden sich jedes Jahr in Mecklenburg-Vorpommern für den Freitod, deutschlandweit sind es über 10.000.

Weitere Vorstellungen des Stücks gibt es am 1., 4. und 5.10. jeweils um 10 Uhr, am 4.10. ist um 19.30 Uhr eine weitere Abendvorstellung angesagt. Karten gibt es direkt im Theater.

Das Projekt wurde finanziell gefördert von der Hansestadt Wismar, dem Landkreis Nordwestmecklenburg und der Bürgerstiftung Wismar.

Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge (telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

Nicole Hollatz


http://www.ostsee-zeitung.de/Mecklenburg/Wismar/Theaterstueck-will-Wege-zurueck-ins-Leben-zeigen2 --


Antigone sucht ihr Lachen heute im Wismarer Fürstenhof

Gestern war Auftakt zum 10. Internationalen Straßentheaterfest „boulevART“. Auch ein Projekt aus der Hansestadt leistet einen Beitrag zur Inklusion mittels Kunst.

Beeindruckend: Neben Masken und fantasievollen Kostümen ziehen die selbst gestalteten Großfiguren, die sogenannten Kopffüßler, aus der Werkstatt von Lars Maué und seiner Frau Johanna die Blicke der Zuschauer auf sich. Fotos (5): Ina Schwarz

Beeindruckend: Neben Masken und fantasievollen Kostümen ziehen die selbst gestalteten Großfiguren, die sogenannten Kopffüßler, aus der Werkstatt von Lars Maué und seiner Frau Johanna die Blicke der Zuschauer auf sich. Fotos (5): Ina Schwarz

 


 
Kultur

sz-exklusiv Freitag, 6. Januar 2012

(Sächsische Zeitung)

Meister des zweiten Gesichts

Von Grit Büttner

Die maßgefertigten Kunstwerke aus einer der letzten Werkstätten für Theatermasken begeistern vor allem kleinere Bühnen.

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Masken über Masken und alle aus Leder: Schauspieler Lars Maué probiert eine aus. Foto: dpa

Die Brauen müssen markanter ausfallen. Wie ein Bildhauer formt Lars Maué dicke Wülste über den Augenhöhlen. Nach der Tonvorlage wird der Maskenbauer später einen Holzkopf schnitzen. Auf diesem modelliert er dann in Filigranarbeit aus eingeweichtem elastischem Rindslenden-Leder das „zweite Gesicht“ für den traurigen Clown eines Brecht-Stückes.

Auch alle erdenklichen Tiere, Kaufleute, Räuber, Verliebte, Harlekine oder Hexen gehören zu seinem Repertoire. Denn Lars Maué fertigt in seiner Wismarer Werkstatt, die so winzig scheint wie ein Puppentheater, Theatermasken an. Er ist einer der Letzten mit diesem offiziellen Berufstitel. In keinem deutschen Handwerks- oder Künstlerverzeichnis spielt der Maskenbauer heute noch eine Rolle. Zwar kommen vor allem in Kindertheatern noch Masken zum Einsatz, doch diese werden dann meist von den Maskenbildnern hergestellt.

Maué hält den Atem an, als er vorsichtig eine getrocknete Leder-Larve – so werden die Masken auch genannt – vom hölzernen Modellgesicht abzieht. Atmungsaktive Lederfarben ersetzen das Make-up, die Maske wirke damit lebendig wie eine zweite Haut, erklärt der gelernte Schauspieler Maué. Eine Maske bilde den Auftakt zum Entwickeln einer Bühnenrolle, sie gebe den Charakter vor. „Eine Maske fokussiert wie ein Brennglas Emotionen und Körpersprache.“

Der Wismarer, der neben Schauspiel und Maskentheater auch Regie, Bühnenbildnerei und modernen Tanz studierte, kreiert seine Kostüme daher stets im regen Ideenaustausch mit Künstlern und Regisseuren. Eine Theatermaske dürfe nicht verschleiern wie beim Karneval, sagt er. Vielmehr soll sie den Charakter einer Bühnenfigur im wahrsten Wortsinn „entlarven“. So wie die Stimme den Sinn von Worten spiegelt, präzisiert die Maske, die Körpersprache

Charakter entlarven

Das Maskenspiel sei eine uralte Kunst, die schon von den Griechen und Römern in der Antike gepflegt wurde, sagt Maué. Sein Handwerk erlernte Maué bei Koryphäen: Von Lehrern des französischen Theatre du Soleil, dem indonesischen Tänzer Suprapto Suryodarmo und von Donato Satori, dem Sohn einer venezianischen Maskenbauerdynastie. Maué machte sich 2004 selbstständig und zog 2009 nach Wismar.

In Deutschland kommen Masken außerhalb des Kindertheaters nur noch wenig vor. Vor allem experimentelle Theater ließen sich noch auf das „Versteckspiel“ ein, sagt der 47-Jährige. Maué findet seineKundschaft eher bei den kleinen, wenig bekannten Ensembles.Neben einem Wiener Straßentheater gehörten freie Häuser in Hamburg und Lübeck sowie ein Rostocker Alleindarsteller zu seinen Auftraggebern.

Für sein Handwerk sieht der Maskenbauer aber durchaus eine Zukunft: Auch große Theater müssten neue Wege einschlagen, um wieder jüngeres Publikum anzulocken. Dafür sei das Maskenspiel wie geschaffen – schließlich habe die Maskenkunst, die Jäger vor Jahrtausenden mit ihren Trophäen erfunden haben sollen, inzwischen das denkbar modernste Medium erobert: Kein Computerspiel gehe heute mehr ohne maskierte Helden über die virtuelle Bühne. (dpa)


/OZ/LOKAL/HWI vom 28.07.2010 00:00

Straßentheaterfest in Wismar

Jugendliche und junge Erwachsene spielen „Best of Nosferatu — ein Grusical bei Tageslicht“ zum Straßentheaterfest.
Wismar (OZ) - Ruslan Borodin (27) ist der wichtigste Mann im Stück. Er steht unter dem fast fünf Meter hohen Nosferatu und muss aufpassen, dass die Figur nicht umfällt. „Es ist verdammt schwer“, sagt der junge Mann mit Migrationshintergrund. Für ihn besonders. Er muss mit den Menschen, die vor und hinter ihm die stabilisierenden Seile halten, und mit „seinen“ Händehaltern kommunizieren. Und die deutsche Sprache ist nicht seine Stärke.

Wie er haben viele der anderen Schauspieler und Akteure beim Wismarer „Theater Phoenix“ Schwächen. Aber auch Stärken, wie Ruslan Borodin beim Maskenbau. Den gruseligen Nosferatu-Kopf hat er zusammen mit Fachmann Lars Maué entworfen.

25 Jugendliche und junge Erwachsene aus Wismar machen mit beim „Grusical Best of Nosferatu“ nach dem Wismarer Stummfilmklassiker „Nosferatu — eine Symphonie des Grauens“. Sie alle haben eines gemeinsam: soziale Probleme, keine Arbeit, zum Teil keine Ausbildung.

Die ARGEn Wismar und Nordwestmecklenburg finanzieren das ungewöhnliche Projekt. Theater spielen und dabei über sich hinaus wachsen statt „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ — sprich Ein-Euro-Job.

„Wir müssen mitmachen“, sagt Jessica Sahr (20), „aber es gefällt uns.“ Marcel Silbersdorff (26): „Das ist doch mehr als ein normaler Ein-Euro-Job, hier wird man richtig gefordert.“ Jeden Tag wird am Theaterstück gearbeitet. Vormittags ist Probe, nachmittags werden Kostüme genäht, die Kulissen oder Masken gebaut.

„Für einen regelmäßigen Tagesablauf“, erklärt Gudrun Besecke von der FAW, der Fortbildungsakademie der Wirtschaft, als Träger der Maßnahme. Es wird zusammen gekocht, zusammen gefeiert, die Flyer und Plakate werden entworfen, Drehbücher geschrieben — „sich ausprobieren in den unterschiedlichen Tätigkeiten“, erklärt sie weiter. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen machen alles selbst — natürlich mit professioneller Hilfe und dem nötigen Ansporn. Der kommt von ganz alleine, immerhin hatten sie schon drei große „Produktionen“ dieses Jahr. Premiere für die vierte — Nosferatu — ist am Sonnabend um 18 Uhr vor der St.-Georgen-Kirche. Eine besondere Premiere, immerhin kommen auch ähnliche Theatergruppen aus Ravensburg, Ansbach, Lübeck und Ludwigslust dazu nach Wismar. Jede Gruppe hat sich eine Szene zum Thema Nosferatu einfallen lassen. „Wir lassen uns überraschen, was zusammen rauskommt“, meint Theaterpädagoge Jörn Zacharias.

„Aufgeregt bin ich vorher immer“, verrät Laiendarstellerin Nicole König (25). Die zweifache Mutter hat schon Hauptrollen in den Stücken gespielt. „Das Spielen macht Spaß, etwas vor Publikum zu zeigen.“ Was bei einem Texthänger zu tun ist, weiß sie längst: improvisieren. „Die Gäste kennen den Text ja nicht.“ Auftakt für das Internationale Straßentheaterfestival ist am Freitag um 19.30 Uhr am Alten Hafen.

NICOLE HOLLATZ